Entschleunigen im Alltag
Entschleunigen im Alltag: Praktische Beispiele für kleine Erholungszeiten
Ich gehöre zur Generation der Baby-Boomer (wer auch immer sich diesen Namen ausgedacht hat, ich muss bei “Boomer” immer sofort an diesen Filmhund denken …. ahh, ich schweife ab).
Also zu denjenigen, die ohne Internet aufwuchsen und Telefonzellen nicht zum Büchertauschen nutzten.
Den Sprung aus dem analogen Zeitalter mit Schreibkursen auf elektrischen Schreibmaschinen (na klar war ich dabei) rein in die vernetzte Globalisierung mit ungebremster Beschleunigung habe ich also live mit- und überlebt.
Eine spannende Zeitreise voller Veränderungen doch auch von bewahren und weiterleben von Werten.
Zeit. Das Stichwort.
Was sich in all den Jahren nicht verändert hat, ist die Tatsache, dass ein Tag immer noch aus 24 Stunden besteht und bestehen wird.
Nur anders.
Geschwindigkeit, das immer mehr aus der Zeit rausholen, gewann zunehmend an Priorität.
Dank der Technologie haben wir gelernt, in gleichgebliebener Zeit mehr zu erledigen. Und wenn die Zeit für alle Aufgaben dann doch nicht reicht, zwacken wir halt etwas von der Nacht ab.
Heute kann ich in 5 Minuten Mails an Freunde auf der ganzen Welt senden. Vor 40 Jahren, als ich noch Briefe und Umschläge auf meiner Schreibmaschine tippte und Briefmarken aufklebte, sah das anders aus. Nicht zu vergessen die Zeit, die der Postweg in Anspruch nahm.
Ich erinnere mich noch gut an Aufschriften auf Briefumschlägen wie diese: „Lieber Postboste, eile – sonst kriegt die Moni Langeweile.
Also die analoge Version von WhatsApp.
Mehr
Und für die Optimierungsoptimisten unter uns: Ja klar, Mails kann man auch in 3 Minuten versenden. Doch die Frage bleibt die gleiche – warum? Ist immer schneller, immer mehr gleich immer besser?
Könnte es sein, dass Weniger oder Besser auch Mehr-Wert bedeuten kann? Mehr sinnvolles Nutzen von Ressourcen, mehr Qualität statt Quantität, mehr nachhaltige Lebensqualität, und vor allem, ausreichend Zeit für den Schlaf?
2004 veröffentlichte der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Beschleunigung – die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“. In seinen Worten ausgedrückt: „Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen“. Lesenswert finde ich seinen Beitrag ”Beschleunigung | Zeit im Lebensverlauf” (2)
2012 veröffentlichten Dr. Hatzelmann und Dr. Held einen Artikel über die “Zeitkompetenzuhr” – dort halten sie bei Station 6 fest: “Jedoch hat jeder Mensch seine eigene Drehzahl, in der er sich gut fühlt und effizient arbeiten kann. Eine Geschwindigkeitserhöhung (z. B. schneller auf der Tastatur zu tippen) führt zu Fehlern – die vermeintlich gewonnene Zeit fällt der Korrektur wieder zum Opfer.” (9)
Die 2017 von der Techniker Krankenkasse durchgeführte Schlafstudie zeigt, dass dauergestresste Personen oft auch nach der Arbeit viele Aufgaben erledigen möchten. Und die Hälfte dieser Befragten schafft es dabei nicht zeitig ins Bett. (8)
2019 erschien im Verlag Spektrum der Wissenschaft ein spannender Beitrag des französischen Neurobiologen Dr. Sébastien Bohler, der einen Einblick in den Programmcode des Gehirns gibt, der unsere Konsumbedürfnisse antreibt und wie wir gegensteuern können. (10)
Unser Körper und unser Geist vertreten da seit Jahrtausenden eine klare Ansicht. Wir können Sprints wie auch Marathons laufen, wir sind zu enormen Leistungen fähig. Doch: dafür benötigen wir täglich Pausen und ausreichend Schlaf zur Regeneration und für Reparaturarbeiten.(3)
Diese Einstellung vertreten, nebenbei bemerkt, auch unser akkubetriebener Rasenmäher und Autobatterien (die insbesondere gerne im Winter) 😉
Stellen wir uns eine wahrscheinlich typische Alltagssituation vor:
Ein hektischer Start in den Tag: schnell duschen, anziehen, nebenbei den ersten Kaffee trinken, die Tasche packen, dabei die ersten beruflichen Nachrichten checken, der Katze Futter hinstellen (mega wichtig! Da versteht Minnie keinen Spass) – all das schon in einer Eile, die wenig Raum für Entspannung lässt.
Ein vollgepackter Arbeitstag wartet auf uns, wie nun mal auch private Erledigungen. Versicherung anrufen, einen Arzttermin organisieren, die Pflegekasse der Mutter kontaktieren – und wann beginnt der Stau auf der Autobahn nachmittags nochmal?
Zu Hause geht das Tempo oft ungebremst weiter: Sport, Garten-arbeit, der Bügelberg und die Steuererklärung warten auch bereits auf uns. Bis man schließlich erschöpft nach dem Tagesmarathon auf der Bettkante sitzt.
Gar nicht so leicht, dann gut ein- und durchzuschlafen, vor allem wenn die Gedanken immer noch weiter rennen, oder? Insbesondere wir Frauen grübeln nachts häufiger über private oder familiäre Sorgen als Männer.(8)
2022 zählten wir in NRW 252 Arbeitstage, bei einer 5 Tage Woche. In 2023 sind es 248 Arbeitstage.
Hand auf’s Herz: an wie vielen Tagen im Jahr drehst du solche Temporunden? Wie oft legst du regelmäßige Pausen ein? Nur am Abend oder am Wochenende?
Die Bedeutsamkeit von Erholung
In ihrer Publikation “Always Online: Abschalten in einer mobilen Arbeitswelt” halten die
Autorinnen folgendes auszugsweise fest:
“Erholung ist ein lebenswichtiger Prozess, bei dem beeinträchtigte Ressourcen anhand verschiedener
Aktivitäten wieder aufgebaut werden. Erholungsprozesse spielen folglich eine wichtige Rolle für die
individuelle Gesundheit und das Wohlbefinden.
Dementsprechend kann ein Mangel an Erholung langfristig zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen der
psychischen und physischen Gesundheit wie auch der Leistungsfähigkeit führen. “(3)
Stell dir vor, du sitzt in einem vollen Bus oder Zug auf dem Weg zur Arbeit. Dein Terminkalender ist vollgepackt mit Meetings, Aufgaben und Verpflichtungen. Der Lärm um dich herum, die ständigen Nachrichten auf deinem Smartphone und der Druck, immer erreichbar zu sein, können dazu führen, dass du dich gestresst und überfordert fühlst. Dieser Zustand ist vielen von uns wahrscheinlich nur allzu vertraut.
Die Bus- oder Zugfahrt zur Entschleunigung nutzen
Dein täglicher Arbeitsweg kann zu einer wertvollen Zeit der Entschleunigung werden, anstatt ihn als notwendiges Übel zu betrachten. Stell dir vor, du nimmst dir einmal bewusst Zeit für dich während dieser Fahrt.
Hier folgen einige Überlegungen zum ausprobieren:
Die Bus-, oder Zugfahrt zur Arbeit und nach Hause kann somit zu einer wertvollen Zeit der Entschleunigung werden. Statt gestresst und gehetzt anzukommen, kannst du entspannt und erfrischt in den Tag oder in den Feierabend starten. Diese kleinen Veränderungen in deiner täglichen Routine können einen großen Unterschied in deinem Wohlbefinden machen.
Welche Ideen gäbe es noch, um deinen Alltag in einem für dich passenderen Tempo zu gestalten?
Zum Abschluss habe ich noch eine Bitte an dich:
Probiere step-by-step und in deinem Tempo aus, was für dich funktioniert, was dir Freude in dein Leben bringt, wobei du dich wohlfühlst.
Am Anfang wird wahrscheinlich auch etwas Geduld und Durchhaltevermögen benötigt. Du beginnst ein Training und manch eine von uns benötigt etwas mehr, die andere vielleicht weniger Zeit.
Warum?
Vieles von unserem Verhalten beruht auf (tw. jahrelanger) Gewohnheit. Veränderungen müssen damit auch erst wieder durch üben und lernen zu einer Gewohnheit werden.
Ich wünsche Dir ganz viel Erfolg dabei.
Hier geht’s zur Wissenschaft
(1) https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-neo-oekologie/
(2) Beschleunigung | Zeit im Lebensverlauf | Dezember 2020 | Hartmut Rosa
https://www.researchgate.net/publication/350246283_Beschleunigung
(3) Ross, U., Fritzsche, K. (2016). Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung. In: Fritzsche, K., Geigges, W., Richter, D., Wirsching, M. (eds) Psychosomatische Grundversorgung. Springer, Berlin, Heidelberg.
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-47744-1_29
Reinke, K., Düvel, B. Always Online: Abschalten in einer mobilen Arbeitswelt. Organisationsberat Superv Coach 29, 397–407 (2022). https://doi.org/10.1007/s11613-022-00770-7
Unter Punkt 2.2. nachzulesen
(4) https://www.uni-paderborn.de/universitaet/benefit/aktionen-tipps-tricks/pausen-sind-wichtig-fuers-gehirn
(5)
(6) Claßen, T., Bunz, M. Einfluss von Naturräumen auf die Gesundheit – Evidenzlage und Konsequenzen für Wissenschaft und Praxis. Bundesgesundheitsbl 61, 720–728 (2018).
https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-018-2744-9
(7) www.uni-goettingen.de/ohr
(8) https://www.tk.de/resource/blob/2033604/118707bfcdd95b0b1ccdaf06b30226ea/schlaf-gut-deutschland-data.pdf
(9) https://www.zeitkompetenz.de/AmLimit-ArtikelimLeidfaden.pdf
(10) https://www.spektrum.de/news/entschleunigung-bewusster-leben/1662326